Absurdes Theater jenseits schneller rationaler Zugänge

Simone Fleischmann und ihre Theatertruppe am Gymnasium Ochsenhausen haben sich in diesem Jahr an ein ganz besonderes Stück herangewagt: „Die Stühle“ des französisch-rumänischen Autors Eugène Ionesco ist so genanntes absurdes Theater. Ein altes Ehepaar wartet auf einen Redner, der einer Gesellschaft eine wichtige Botschaft mitteilen soll. Für die unsichtbaren Gäste sind Stühle aufgestellt. Nur: Die Gäste kommen nicht, doch die Alten sprechen trotzdem mit ihnen und bauen sie in ihre Interaktion ein. Soweit die Grundkonstellation des Stücks.

Wer Fleischmanns Produktionen kennt, weiß, dass sie selten den germanistischen Respekt vor einem Klassiker gelten lässt und beherzt in die Handlung einer literarischen Vorlage eingreift. Das Zwei-Personenstück wird kurzerhand um zwei weitere Akteure erweitert: Clara Bendel und Sameer Varma spielen sehr überzeugend die Diener der beiden Alten. Sie schlüpfen einmal in die Rolle des Pflegepersonals,  tragen als Echo chorisch die immergleichen Lebenserinnerungen des Ehepaars vor oder übernehmen die Funktion von Streitschlichtern, wenn sich die Senioren auf ihren grünen Sesseln in Rage reden. Die dezenten Aktionen der „Butler“ sind dabei mehr als bloßes Beiwerk, sondern entwickeln sich im Laufe des Theaterabends zum unverzichtbaren dramaturgischen Element. Ihre Stunde ist endgültig gekommen, wenn am Ende das alte Ehepaar nach der Ankunft des so sehnsüchtig erwarteten, aber schließlich schweigenden Redners seinen Lebensabend durch einen Sprung ins Meer abrupt beendet. Schweigend entledigen sich jetzt die Jungen der Einrichtungsgegenstände der Alten, dekorieren das Zimmer um, werfen die Kleidung den Toten hinterher. Ihrer Butlerlivree entstiegen leben sie nun entspannt eine eigene Erinnerungskultur, symbolisiert durch ein Fotoalbum.

An diesen Handlungselementen zeigt sich die durchdachte Regie des Spiels mit Requisiten. Das Motiv des Fotoalbums bildet den Auftakt und wird am Ende wieder aufgegriffen: Während die Alten aber in sinnlosen Redebeiträgen scheinbar in Erinnerungen schwelgen, in Wirklichkeit aber eigentlich nicht kommunizieren, verständigen sich die Jungen, über ihr Fotoalbum gebeugt, problemlos ohne Worte. Ein tolles Schlussbild. An anderer Stelle sind es Kleidungsaccessoires wie eine Federboa oder ein Hut, die von den Dienern über die Stühle gehängt werden und so den imaginierten Besuch ersetzen.

Gekrönt wird das Ganze durch das variable Bühnenbild: Dominiert zunächst die beengende Zweisamkeit im Zwiegespräch mit dem Publikum, öffnet sich der Bühnenraum und gibt den Blick frei auf eine festlich gedeckte Tafel. Hier agieren die vier Schauspieler unglaublich souverän. Das Ehepaar, in seiner Tatterigkeit sehr überzeugend verkörpert von Joshua Beck und Katharina Rief, spricht mit den Nichtanwesenden, tanzt schließlich exzentrisch und hält immer wieder Pausen gekonnt aus. Der stete Wechsel an Stimmungsschwankungen wird von zahlreichen Chansons  Jacques Brels umrahmt – ein Klangteppich, auf dem die Schauspieler mit ihren Körperhaltungen und Stimmlagen wunderbar durch das Stück wandeln können. Wer im Inhalt zwanghaft den Sinn sucht, dem sei ein Zitat Ionescos aus dem Programmheft mit auf den Weg gegeben: „Die Welt erscheint mir mitunter leer von Begriffen und das Wirkliche unwirklich. Wie könnte ich, da die Welt mir unverständlich bleibt, mein eigenes Stück verstehen?“ Die Inszenierung Simone Fleischmanns und ihrer Theater-AG ist ein Gesamtkunstwerk, das den Zuschauer in seinen Bann zieht, jenseits jeglicher schneller rationaler Zugänge. Das Publikum war ob dieser künstlerischen Leistung begeistert.

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