Das Bundesverfassungsgericht sollte die Notbremse ziehen

Am Anfang steht eine Szene wie aus einem Film: Zwei Männer laufen in München eine enge Straße entlang und stoßen auf zwei in Lederkluft gekleidete Personen, die Plakate an einer Mauer befestigen. Kurz darauf dringt das Geräusch einer marschierenden Menge an das Ohr der Passanten: Es handelt sich um einen SA-Trupp, der sich anschickt, die Plakatierer zu verfolgen und zu misshandeln, nur weil sie Kommunisten sind. Mit dieser eindrücklichen Episode aus dem Leben Franz Frickers entführte Frank Heckelsmüller die Besucher seiner Autorenlesung in die Welt seines oberschwäbischen Zeitzeugen. Fricker, einer der beiden unbeteiligten Männer bei der Münchner Szenerie, ist der Großvater des Autors. Aus dessen Perspektive schildert der Enkel Erlebnisse des Ochsenhausers in der Zeit der Weimarer Republik und des Dritten Reiches. Dabei berühren die sehr persönlichen Einblicke auf ganz besondere Weise. Wie wird ein eher konservativ eingestellter Katholik Mitglied der NSDAP? Den Leser an diesem persönlichen Entscheidungsprozess teilhaben zu lassen, ist eine der großen Leistungen des Buches: Da sitzen Franz und sein Freund Bene Abend für Abend bei Parteiversammlungen in einem Ochsenhauser Lokal und lauschen den Hassreden eines überzeugten Nationalsozialisten. Auf die sogenannte Judenrepublik und den Bürgermeister Eh vom Zentrum wird verbal eingedroschen. Die jungen Männer grübeln und wägen ab: Zukunftsängste, Enttäuschungen und der Eindruck von Massenarbeitslosigkeit prägen das Denken und Empfinden vieler Menschen der damaligen Zeit. Zwischen mehreren Halben und einigen Obstlern unterschreiben die beiden schließlich den Mitgliedsantrag. Von da an ist Fricker einer von denen und wird sogar wenig später Blockwart. Erste Kratzer erhält sein Weltbild, als man im Frühjahr 1942 die Glocken aus der Klosterkirche zum Einschmelzen abtransportiert. Ein System, das zu solchen Mitteln greift, kann den Krieg eigentlich nicht mehr gewinnen, sieht jetzt auch Fricker ein. Die Augen öffnet ihm jedoch ein anderes Ereignis: Zusammen mit seinem Freund und einem alten Schullehrer wird er Zeuge, wie dieGestapo den Ortspfarrer misshandelt und demütigt.

Im Anschluss an die Lesung stand der Autor Rede und Antwort. Dabei tauchte auch die Frage nach der Authentizität der Dokumentation auf. Frank Heckelsmüller, der selbst seinen Großvater nie persönlich getroffen hatte, schrieb immer wieder die Anekdoten und Geschichten auf, an die sich seine Mutter noch erinnern konnte. Um die Berichte und persönlichen Eindrücke zu ergänzen, bedurfte es aber auch der klassischen Historikerarbeit: So war Heckeslmüller häufiger zu Gast in Archiven. Dort durchforstete er unter anderem die Prozessakten zum Buchauer Synagogenbrand. Gerade diese dunkle Episode zeigt, wie gut die nationalsozialistische Organisationsstrukturen in Ochsenhausen im Gegensatz zum katholischen Umland funktionierten. Andere Zusammenhänge wurden frei gedeutet. „Manchmal schaute ich mir Fotos an und überlegte, wie sich die Menschen damals gefühlt haben müssen“, so der Autor. Das Ergebnis ist eine lebensnahe Darstellung – so lebensnah, dass der Name „Heckelsmüller“ an keiner Stelle des Buches zu lesen ist, wie Stefan Evers, Fachabteilungsleiter für gesellschaftswissenschaftliche Fächer am GO, feststellte. „Wir haben es hier mit einem Ghostwriter zu tun“, so der Pädagoge in seiner kurzenBegrüßungsansprache.

Evers betonte noch einen anderen wichtigen Aspekt: In Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung rücke Geschichte immer weiter ins Hintertreffen, was angesichts der wichtigen Botschaften und Lehren fatal sei. Und so fragten sich bei der Lesung auch junge Zuhörer, ob so etwas wie der Nationalsozialismus heute wieder passieren könne. Frank Heckelsmüller antworte ohne Umschweife: „Unsere Demokratie ist zwar stark, aber es gibt auch Kräfte, die in der Lage sind, die Demokratie zu beseitigen“, so der Autor. „Ich appelliere an die nicht anwesenden Bundesverfassungsrichter: Man muss hier die Notbremse ziehen.“

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